Stoffwechsel 
Der neue Roman „Stoffwechsel“ führt in eine Welt individueller Endzeiten. Dort knüpft Lina Engels mit ihrem Pflegedienst die letzten Bande, hält ge­sund und am Leben – und hilft mit, dass ihre Klien­tin­nen und Klienten ihre Würde nicht verlieren und ihr Leben in der letzten Lebens­phase selbst­be­stimmt in ihren Hän­den halten. Lina kämpft ein­falls­reich und beherzt auf allen Ebe­nen um ihre Klien­tel – und ihren „Stoff­wechsel“
Lina ist mit „Engels Pflege“ erfolgreich, doch ihre Ar­­beit hat einen hohen Preis: Ihr erfolgs­ver­wöhn­ter Be­trieb ist feind­lichen Übernahme­versuchen aus­ge­setzt, Hacker­an­grif­fen und Abwer­bungen – und sie selbst gerät dabei im­mer tiefer in eine psy­chi­sche Kri­se: Burnout. Ihr Weg zu­rück scheint unendlich schwer – sie würde sich selbst neu finden müssen, aber auch Pflege neu erfinden müssen: vielleicht mit neuen Lebensformen oder Pflegemodellen wie „Aurora“, die den Menschen die Selbst­be­stim­mung über ihre letzten Tage zurück­geben sollen.
Ein­gebettet in das Berlin der Jahre 2015-2016 folgen wir Linas Weg. Sie wird begleitet von ihrer Freundin Alma Berman, einer klinischen Psycho­login, von ihrem neu­­en Kollegen Paule Jecker, dem Juristen Werner Wohl­ge­nannt und ihrer Equipe engagierter Pflege­rin­nen und Pfleger – und einem imaginierten Papagei.
Sie begegnet da­bei einer schier unerschöpflichen, be­drücken­den und fas­­zinierenden Vielfalt von Schick­sa­len, Lebens­fä­den, Per­sön­lich­kei­ten und Schwierig­kei­ten, Men­schen ver­schiedenster Her­kunft und Lebens­kraft – immer neuen, wechselnden „Stoffen“.
Eine erste Lesung mit Auszügen aus der vorläufigen Fassung des Romans fand am 15. April 2023 in „Literatur unterm Dach“ in Berlin statt – mit anschließender, intensiver Diskussion.
2023 erschienen bei
Königshausen & Neumann
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ISBN 978-3-8260-8161-3
284 Seiten, € 24,–
Leserstimmen
In "Stoffwechsel" habe ich mit wachsender Faszination den rasanten und fesselnden Einstieg in Lina Engels’ Pflegedienst gelesen, der einen (wie die Fahrt im Abarth-igen Fiat) in die Sitze presst — überhaupt diese gelungene Exposition mit ihrer Szenerie im Hauptquartier, dem Spektrum an Charakteren und der Realität des Pflegealltags, aufs Schonungsloseste und in allen Schattierungen beschrieben, beginnend mit dem Fall von Kurt Nebel… Ich bin auch sehr beeindruckt von der Authentizität der Figuren, angefangen von ihren völlig plausiblen Namen (es ist gar nicht leicht, "gute" Namen zu erfinden...), über den Pflegedienst-Übernahme-Krimi bis hin zur unerwarteten Auflösung des Rätsels um die Praktikantin Irina, komplettiert durch Totem-Tiere, die Frechheiten plappern oder Lina stumm ihre kontrollierte Kraft spüren lassen. Atmosphärisch sehr dicht und authentisch, inklusive Berliner Lokalkolorit!
Hartmut Wittig, Mainz

Michael Reicherts schafft es mit "Stoffwechsel" einen Roman zu kreieren, der sich nicht nur sehr gut und flüssig lesen lässt, sondern auch gleichzeitig zum Nachdenken, zum Reflektieren anregt. Sozialkritische Fragen keimen beim Lesen in einem auf. Das System, in dem wir leben drängt die Alten und Hilfebedürftigen an den Rand dieser Gesellschaft. Die Menschen, die es wie Lina Engels mit ihrem Pflegedienst als ihre Berufung sehen diesen Strudel von Bürokratie, Mangel an Ressourcen und Widrigkeiten zu durschwimmen, drohen unterzugehen und kämpfen doch weiter... Doch der Preis, den sie zahlen ist hoch. 
Wer diesen Roman wählt, wird nicht enttäuscht. Gute Unterhaltung gepaart mit subtilen Triggern, mit denen wir uns alle früher oder später auseinandersetzen müssen. Bravo!
Lena Jensen, Berlin 

In kleinen Flitzern, wie auf Flügeln, schwärmen sie aus durch die Strassen Berlins, mal bleiben sie im Grossstadtverkehr stecken. um dann mit überhöhter Geschwindigkeit die verlorene Zeit wieder gut machen. Die Mitarbeiter von Lina Engels‘ Pflegedienst haben Termine bei ihren Klienten, betagten, pflegebedürftigen Menschen.
Sie lernen wir auf diesen Visiten nach und nach besser kennen; die Besuche bilden in kurzen Kapiteln einen Grossteil des Romans. Wer jetzt meint, Alte mit ihren Leiden und Wehwehchen, das sei doch nicht spannend, sieht sich getäuscht. Sie haben zwar Beschwerden, letale Krankheiten, tragen einen schweren Rucksack an Lebenserfahrungen, leben ihre Tics aus, sind aus nachvollziehbaren Gründen misstrauisch, sie sind schrullig, schräg, stolz, eingebildet. Es sind einfach bemerkenswerte Persönlichkeiten, deren Entwicklung man mit grosser Neugier, ja Freude mitverfolgt. Einige von ihnen sind nicht einfach, und man weiss nie, mit welcher Überraschung sie Lina bei ihrem nächsten Besuch erwarten. Sie wird von ihren Klienten herausgefordert, getestet, ihre Zuneigung wird harten Prüfungen unterzogen, einige versuchen sie zu belügen, zu täuschen, aber schliesslich wird sie entweder geschätzt, gar geliebt, oder ihre Kompetenz anerkannt.
Diese Alten haben es nicht leicht, aber man sieht sie mit Linas Augen, man mag sie, fühlt mit ihnen, interessiert sich für ihr Schicksal. Ein Mann muss vor der lebensbedrohlichen Fürsorglichkeit seiner misstrauischen Schwester geschützt werden, einer stirbt auf dem Klo, ein Gutgläubiger wird um sein Haus betrogen, eine Frau versteckt ihr Geld zuhause, eine Dame will partout keine Unterhosen tragen, ein Wichtigtuer mit Doktortitel wirbt um Linas Gunst, der Catcher-Koloss Hotte der Würger alias der Adler von Wedding trägt sie auf Händen - Es gibt viele sprechende Namen in Stoffwechsel, sie triggern die Fantasie, sind kleine Geschichten für sich.
Lina Engels ist der rote Faden, sie hält alles zusammen, ohne sie geht im Pflegedienst gar nichts. Ihr Tun ist getragen von grosser Menschlichkeit, Integrität und Durchhaltewillen Sie ist eine lebhafte, sensible Frau, die auch resolut sein kann, wenn es die Situation erfordert. Ihre unkomplizierte, gradlinige Art wird von den Klienten geschätzt, auch wenn das nicht alle zeigen können. Aber sie muss an verschiedenen Fronten kämpfen, gegen Intrigen im Innern, gegen Kompetenzgerangel, Missgunst, Neid, gegen fragwürdige Strukturen in einem undurchsichtigen Umfeld, wo Pflegebedürftige abgeschoben und in einem undurchschaubaren Sumpf einfach „verschwinden“ können. Zudem drohen mafiöse Organisationen mittels unseriöser Preiskämpfe, ihren Dienst zu übernehmen. Mit Alten kann man auch Geld verdienen, und das ruft zwielichtige Figuren auf den Plan.
Die Klienten müssen versorgt werden, brauchen individuelle Pflege, Medikamente müssen regelmässig und zuverlässig verabreicht und deren korrekte Einnahme gesichert werden. Eine organisatorische Herausforderung. Aber genauso wichtig sind die Bezugspersonen, der menschliche Austausch, der hier mehr bedeutet als simple Kommunikation. Für viele ihrer Klienten sind Lina und ihr Team der einzige Austausch mit der Welt. Auch eine Art von Stoffwechsel.
Der Roman ist eine kurzweilige und faszinierende Reise in die Welt der Alten und Pflegebedürftigen, aber er weist auch auf Strukturen hin, die der wachsenden Überalterung der Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Das bereitet Lina Sorge. Sie trägt die Verantwortung über ein komplexes Tätigkeitsfeld, das gegen die Ränder hin ausfranst. Die Kontrolle über die Klienten kann verloren gehen, Vieles liegt im Argen. Pflegeketten können zerreissen, weil es kein Bewusstsein für Verantwortungsketten oder Rechenschaftspflicht gibt. Es geht um die delikate und von Gesellschaft und Medien grösstenteils verdrängte Frage, wie der komplexe Umgang mit den Alten (Betreuung, Medizin, Rechtliches) in der Zukunft angegangen werden könnte. Und mit Lina Engels‘ Projekt "Aurora" entwickelt der Roman einen Vorschlag, wie das gelingen könnte!
Peter Tremp, Solothurn
Ausführliche Rezension auf Literaturkritik.de
Fotos der Lesung in „Literatur unterm Dach“, Berlin, 15. April 2023