Tod und Teufel
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022).
Sie schildert den Tod aus Kindersicht: Der im schönsten Zimmer des Bauernhauses aufgebahrte Tote, der Onkel des Jungen, hatte einen Motorradunfall. Man folgt dem Jungen bei der Begegnung mit dem Toten, bei dem Begräbnis im Regen, man sieht das Dorf, die ländliche Welt, den Leichenschmaus. Der Junge trauert sehr um seinen Onkel Fritz, mit dem er vor Wochen noch auf einem Jahrmarkt ausgelassen Autoscooter gefahren ist, wo sie einem wilden, tätowierten Mann begegnet sind, der sie, kaum hatte er sie entdeckt, mit seinem Scooter unerbittlich verfolgte…

Leseproben
“Als sie um die Trauergäste an der langen Tafel strichen, sah Daniel: Hälse wurden schon bald gefurcht und begannen zu altern, eingeklemmt in steife Hemdkragen, unter denen die langen schwarzen Trauerkrawatten hervorkamen, oder in weiße Stickkragen bei den Frauen. Die Hälse, die Gurgeln zeigten Vergänglichkeit. Aber Fritz hatte noch einen glatten Hals. Abgebrochene, braune und verfaulte Zähne zeigten das Altwerden noch früher. Daniel ging um die ganze lange Tafel und sah sie sich alle an, verstohlen, aus der Nähe, die Züge, Hälse und Zähne, und er fragte sich, wer wohl der Nächste war, der sterben müsste, und fast alle erschienen ihm gleichermaßen gefährdet. Auch er und Elias trugen Trauer: Um den Kragen ihrer weißen Hemden hatten sie eine kleine schwarze Fliege mit einem Gummiband gebunden. Aber ihre Hälse bekamen nur Falten, wenn sie sich umdrehten.” 
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„Sag ihm auf Wiedersehen, flüsterte Jakob, denn wiedersehen werden wir uns ja hoffentlich alle da oben, und sein Blick wisch­te düster über die Balken der niedrigen Decke… Und sag ihm, was für ein Dummkopf er ist, dass er auf der falschen Seite gefahren ist!  
Daniel schauderte bei der Berührung der Wange und verglich die Züge des Dummkopfs mit dem Gesicht von Fritz, das er noch vor ein paar Wochen gesehen hatte. 
Fritz hatte ihn auf das Weinfest mitgenommen. Er bekam Sinal­co und durfte an Fritz‘ Weißwein nippen. Sie waren zusammen in die Schiffsschaukel gestiegen und fuhren dann ausgelassen in dem Autoscooter mit einem der kleinen elektrischen Autos. Fritz interessierte sich nur für Zusammenstöße. Nach einigen Runden war ihr Auto auf der ganzen Bahn gefürchtet, alle versuchten, ih­nen auszuweichen, bis auf einen – der es auf sie abgesehen hatte.  
Da, der Teufel!, rief Fritz Daniel zu, durch den ohrenbetäuben­den Lärm, durch das Kreischen und Jauchzen und die Musik hin­durch, die man in die Selbstfahrerbahn pumpte. Der Mann fuhr wie der Teufel und sah auch so aus: lange Koteletten, ein schma­ler Schnauzbart, unrasiert. Eine Tätowierung, Flammen und Mes­ser, rot und blau, krochen aus dem Unterhemd über die Oberar­me und den Hals hinauf. Seine tiefliegenden Augen drangen in sie ein, ohne Regung…“