Wo ist Mutti? 
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022).
Diese Geschichte erzählt von Spätwirkungen und Schicksalen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Protagonist beginnt die Wohnung seiner Eltern auszuräumen, die sein dementer Vater nun verlassen wird: Er muss in ein Pflegeheim, die Wohnung wird verkauft. Oft, auch heute wieder, fragt der Vater nach seiner – inzwischen verstorbenen – Ehefrau: „Wo ist Mutti?“. Unter ausgeräumten Büchern entdeckt der Sohn, neben vielen versteckten Spirituosen, einen Schuber mit Briefen, die auf eine frühere, geheim gehaltene, im Krieg verloren gegangene Liebe der Mutter hinweisen.

Leseproben
„Als Gabriel sich an die Arbeit machte, um die Bücherregale leerzuräumen, fand er in Muttis oberer Buchreihe, neben Bänden von Lenz, Böll und Hesse und vielen anderen – Pearl S. Buck, Thomas Wolfe, Ivo Andrić – einen Buchkarton ‘Krieg und Frieden’, einen geschlossenen Schuber mit Silberprägung. Gabriel hatte ihn schon auf den großen Haufen geworfen, der an das Antiquariat ging, doch war er ihm plötzlich so leicht erschienen. Als er den Karton aufklappte, fand er Briefe. Die kräftige flüssige Handschrift in Sütterlin, die er zunächst nur mühsam entzifferte, stammte von einem Ulf Gabler. Gabriel wurde neugierig…“ 
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„Wie anders war dieser Ton als alles, was er je zwischen Vater und Mutter hatte hören können, als alles, was er je bei ihnen gesehen hatte. Ungläubig las er von der Wärme und Entschiedenheit, mit der Ulf seine Greta anspricht, von ihrer Beziehung schreibt, ihre Liebe beschwört, den Kuss, die verzauberte Stille ihres letzten Treffens. Er zitiert ein Gedicht, frech, von dem damals geächteten Kästner. Auch das hatte Gabriel noch nie gehört. All diese Worte, all diese Wendungen in Sütterlin schienen ihm so fremd. Natürlich kannte er manches aus dem Repertoire von Bühnenstücken, von Filmen, von Literatur aus jener Zeit. Aber hier… Und plötzlich war es, als würden alle diese Worte direkt vor ihm, um ihn herum einschlagen: Sie galten Greta und sie hatten seine Mutter getroffen. Und mit ihr hatten sie nun auch ihn berührt? Er schluckte. Diese Zeilen waren Sprengstoff, der über Jahre in ihrem Hause gelegen hatte. Seine Mutter hatte die Briefe hinter sich gewusst, sie machten sie stark in ihrer Sehnsucht, einer Sehnsucht, die sie zugleich schwächen und allmählich aushöhlen musste. Wann, wie oft wohl hatte sie die Briefe hervorgeholt? Wie oft mochte sie diese Worte, diesen Ton und diese Bilder gesucht – und ertragen haben?“ 
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„Es war das erste Mal, dass Gabriel so in seine Geschichte eindrang. Vor ihm öffnete sich ein unerwarteter Raum und sog ihn in seine Kindheit hinein. Mit diesem aufrichtigen, aber immer entfernten, meist mürrischen Vater, in sich gekehrt, wortkarg und kühl. Der auch den Jungen gegenüber ebenso pflichtbewusst wie unbeholfen war, aber oft abweisend und herabsetzend sein konnte. Und mit dieser Mutter: so bemüht und ungeschickt werbend um ihn und Tobias. Mit ihrem Gesicht, das er nie schön fand, mit ihren schmalen braunen Augen, die er nie mochte, weil er diese Augen auch bei sich selbst entdeckt hatte. Mit ihrer Unsicherheit und all ihrem Kümmern um sie, die Jungens…“