Verschränkte Dialoge
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022).
Beim Essen in einem Bahnhofsrestaurant beobachtet ein Mann Ereignisse seiner Umgebung und macht davon Notizen. Dabei wird er Zeuge eines dramatischen Dialogs zwischen einer Mutter und ihrem drogenabhängigen Sohn, der bei der Auseinandersetzung plötzlich mit seinem Kopf in seinen Teller kippt. Dies erinnert ihn an eine Situation mit einer Freundin, die beim Essen mit ihm von einem traumatischen Flashback eingeholt wurde, wie sie in einem Café in Algier Zeugin einer Hinrichtung wurde… Ihre Schilderung hatte ihn damals sehr getroffen, und er spürt jetzt, wie sich die beiden dramatischen Dialoge verschränken und ihn in sein eigenes Schicksal einzuspinnen versuchen…

Leseproben
„Der Sohn sprach nun noch schneller, noch mehr, atemlos be­müht, er wollte seine Mutter glauben machen, und sie nickte, kaum merklich, ängstlich, denn sie spürte sein überbordendes, verzwei­feltes Bemühen. Wie oft hatte sie ihm geglaubt, an ihn geglaubt! Wie gerne würde sie weiterhin glauben, doch ihre Stimme verriet schon die stumme Verzweiflung, die in ihr wartete.  
Ich verstehe, sagte sie, ja ich glaube, ich verstehe: Ich meine, das mit der Ferse, das mit der unteren Körperhälfte, das mit Jeannet­te… das mit dem Neuanfang… Sie wandte sich ab und weinte ein wenig, leise und tränenarm, als er über den Teller, den sie gerade etwas aufgeräumt hatte, hinweggriff und unbeholfen ihre Hand nahm. Sie wusste, er war noch nicht heimgekehrt, ihr verlorener Sohn, und vielleicht morgen, übermorgen Nacht, würde sie ihn endgültig verlieren. Sie wusste, auf der Toilette hatte er etwas neh­men, sich stärken müssen, um ihr so gegenüberzusitzen, sie über­zeugen zu können, um ihr, so unbeholfen wie immer, seine Liebe zu zeigen.  
Ich vermied es, aufzuschauen und schrieb mit, noch tiefer in mein Moleskin gegraben, immer schneller, bis ich stenografierte, sogar die Pausen, wie ein Gerichtsschreiber. So schrieb ich mit an dem Schicksal von Mutter und Sohn, und es war ein harter Job. Die Worte gingen ungefiltert, unter Druck aufs Papier, mein Stift war schnell und doch grub er sich ein. Auch ich hätte heulen kön­nen, ungläubig.  
Der Sohn lachte, als er spürte, wie ihn der Stoff jetzt zu erfas­sen begann und auf seinem Chefsessel nach oben hob. Lachend zeigte er seine schwarzen Zähne, seine Zahnlücke vorne. Und sei­ne Mutter erkannte ihn wieder, wie er vor langer Zeit seine Hygi­ene verlor – als er begonnen hatte, sich selbst zu verlieren, denn ihr war er längst entglitten.  
Sie lachte nicht. Sie sah ihn ruhig an und sagte plötzlich, ganz klar und langsam, betonte jede Silbe, wie vor einem lernenden Kind: Eins musst du wissen, Pierre! Ich habe es noch nie gesagt und werde es auch nicht wieder sagen, hörst du? Ich drohe dir nicht – ich erpresse dich nicht! Mein Leben ist einfach zu Ende. Wenn du an dem Zeug stirbst, bringe ich mich um!“ 
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„Das Flashback hatte Aischa vor mir im San Antonio getroffen, (es hätte jede andere Pizzeria sein können) wie die Schüsse im Café la Liberté, und riss auch mich aus dem charmanten Flirren. Fassungslos über die grausame Gewalt, die Yasser und ihr widerfahren war. Fassungslos von der unvorbereiteten, direkten Art, wie sie mir plötzlich davon erzählte, ohne jede Vorwarnung, ohne jedes Zeichen. Wie die Exekutionsbrigade, die Yasser hinrichtete, denn er hatte gegen die Brigaden geschrieben, er hatte auch Namen genannt, unerbittlich mit seiner Schreibmaschine, trotz der Drohungen am Telefon, die er zuvor erhalten hatte…“ 
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„Lange Zeit sprachen wir nicht. Wir saßen vor unseren Tellern. Aischa nickte dem Kellner aus unbestimmter Ferne zu, als er die Vorspeise abservierte und die Pizza brachte. Sie blieb bewegungs­los, während ich einen mutlosen Schnitt führte und einen Bis­sen nahm, wie fremde Materie. Ich versuchte kaum mehr, ihn zu schlucken. Mit Aischa war auch ich tief getroffen. Hilflos fühlte ich mit und empfand doch nur wortloses Mitleid. Da kamen nur Floskeln in mir auf, psychologische Floskeln, politische Floskeln, die ich sofort als Floskeln erkannte und unterdrückte, nur entrüs­tetes Mitleid und ungläubiges Verständnis erfassten mich, die aber immer zu klein sein würden für dieses Entsetzen, dem ich gegen­übersaß. Wir spürten, noch gab es keine Nähe, keine Zärtlichkeit, um anders damit umzugehen. So war ich verstummt, ehe ich zu sprechen begann.“