Ein Kuss, endlich 
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022).
Diese Geschichte erzählt von der komplexen Beziehung zwischen drei Frauen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt: Katrin und Helene, die an der Kunsthochschule zu engen Freundinnen werden, und Luise, eine mütterliche Freundin, die Katrin für sich gewinnen kann, die aber auch Helene gegenüber stets liebevoll zugewandt ist. Katrin zieht schließlich mit Luise zusammen, und die beiden werden ein Paar, während Helene heiratet und eine Tochter bekommt. Die Erzählung schildert die Konflikte, Eifersüchte, Koalitionen und Auseinandersetzungen der Freundinnen und die Entwicklung ihrer Beziehungen über die Jahre – bis zu einem Kuss, endlich…

Leseproben
„Über Luise, der es nicht gelingt, ihren Zigarillo anzuzünden, hängt ein Mobile. Es erhält neuen Schub von der Zugluft, als Helene die Etagentür öffnet und eintritt, unbemerkt von Luise, deren Zigarillo ihre ganze Aufmerksamkeit verschlingt. Die Musik der rufenden Wale, des Chors von Frauenvokalen und der in Zeitlupe pulsenden Glocken spielt zu den gravitätischen Rotationsbewegungen der Objekte, die an dem Mobile aufgehängt sind. Luise scheint nichts davon zu sehen und zu hören. Auch als Helene zu ihr tritt und sie begrüßen will, zeigt sie keinerlei Regung. Sie hebt nicht einmal den angestrengten Blick vom Feuerzeug. Helene sieht kurz zu dem Mobile hinauf und geht, aufgewühlt, durch den langen Flur nach hinten zu Katrins angelehnter Ateliertüre, aus der die Musik kommt. 
Katrin steht, an den Rand ihres Arbeitstisches gelehnt und erwartet sie. Als eine der großen schlanken Frauen jener Generation trägt sie dunkelblaue Keilhosen, die in braunen Slippern enden. Der weite Pullover mit einem üppigen Schildkrötenkragen ist mit geometrischen Formen bestickt, bunt wie ein explodierendes Farbspektrum. Sie legt Wert auf Kleidung, die weite Bewegungen erlauben; oft hat sie sie selbst entworfen. Halb sitzend, halb angelehnt, scheint Katrin wie auf dem Sprung und breitet die Arme aus, um Helene zu empfangen. 
Helene ist tief erschrocken über Luises Zustand, die sie seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus gerade zum ersten Mal gesehen hat: Luise mit ihrem zweigeteilten Gesicht, die sie bei ihrer Ankunft gar nicht erkannt hat. Luise, die alle Konzentration und Energie auf den Zigarillo gewendet hat. Sie war in den äußeren Teil des Flurs, zu dem Fenster gerollt, das in den Innenhof geht. Katrin sollte nicht gleich bemerken, dass sie rauchte. Wie qualvoll schwer es ihr fiel, den verbotenen Zigarillo anzuzünden… 
Und vor ihr steht Katrin mit ausgebreiteten Armen wie eine Gottesanbeterin, das Insekt, dessen Silhouette vor dem blendenden Licht des breiten Fensters ihr Opfer erwartet. Freundinnen seit so vielen Jahren! Kurz, herzhaft nimmt Katrin sie in die Arme und drückt sie an sich…“ 
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“Scham und Ekel halten Helene fest: Sie ist wieder fünfzehn, spürt, wie die Zunge von Margot, dem Nachbarmädchen, ihre Lippen berührt, dann in ihren Mund eindringt, um ihr zu zeigen, wie ein Zungenkuss funktioniert… Wie ein großer warmer Regenwurm! – schaudert Helene – der in ihren Mund kriecht. Sie spuckt aus, in einem Schauer von Abscheu, und stößt Margot von sich. Die lacht sie aus, mit ihrem sinnlichen Mund, den sie verzieht und sagt: Es ist doch warm und aufregend, Helene. Ein Mädchenmund ist zarter. Jungs, ach Jungs! Die haben raue Zungen und schmecken so seltsam…”