Letzte Näherung
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022).
Paris, in der Gesellschaft der Neoanalytischen Psycho-Topologie eines gewissen Monsieur Larnacq: Sarah, eine Therapeutin psycho-toplogischer Orientierung, bringt in die Supervision mit dem Meister einen seltsamen Fall ein: Juan, einer ihrer Ausbildungskandidaten, liefert offenbar eine ebenso genaue wie bedrückende Beschreibung eines „Ausflugs“ auf einer weiblichen Körperlandschaft. Darüber entbrennt ein Deutungsstreit mit dem Meister: Ist es eine Deckerinnerung, ein Trauma in verhüllter Form – oder etwas anderes mit dem Kürzel „tau“? Sarah gerät in den Sog von Juans Geheimnis – und riskiert eine „letzte Näherung“, bei der sie sich verbotenerweise selbst als Person ins Spiel bringt.

Leseproben
„Eine steil abfallende Beuge. Blicke ich hinunter, sehe ich einen weichen Einschnitt, einen bewachsenen Abhang. Es ist heiß. Wenn ich den Kopf wende: vor mir eine Ebene mit unzähligen, winzigen Löchern, in der Mitte eine gewölbte Vertiefung mit kleinen gelblichen Gräsern. Unscheinbare Maserungen und Faltungen laufen quer darüber. Zwei steile Grate spannen sich rechts und links von einer kleinen Wanne nach oben. Weiter oben steigen scharfe Schatten bis zu einem rundlichen, etwas schrundigen Überhang, aus dem ein leichter, dunkler Flaum sprießt. Ich sehe hinauf: etwas wird geschehen – etwas ist geschehen – es wird kalt…
Sarah ist erstaunt, hochgeschreckt aus ihren Assoziationen, mit denen sie Juan begleitet, der vor ihr auf der Couch liegt. Es ist, als spräche ein anderer: Nicht nur verlangsamt sich sein Sprechen, verliert jede Wärme, wird monoton, dünn und verwaschen, sondern zugleich genau, bildhaft, detailreich. Die Landschaft tritt aus seinem Erleben hervor, ist wie herausgelöst... 
Die Landschaft ähnelt einem Traumbild, doch hat sie etwas Unmittelbares – von ungreifbarer Bedrohung, Verletzung oder Gewalt?, fragt sie sich… Sie erscheint wie ein Solitär, wie eine Schutzzone im Umkreis einer nicht eingebundenen, unzugänglichen Erinnerung, eines Ereignisses, das ein – angemessenes – Sprechen darüber übersteigt, zumindest im Augenblick. So notiert sie es in dem großen Heft, das sie für Juan, wie für jeden ihrer Klienten führt…“ 
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„Sie wartet darauf, dass er weiterspricht und beobachtet ihn jetzt, wie beiläufig, und sie entdeckt, wie er es vermeidet, sie anzusehen. Und jetzt, ganz auf seine Stimme konzentriert, ertappt sie sich, wie… wie sie sich erotische Spiele mit Juan als Jungen vorzustellen versucht… 
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„Die Psychoanalytikerin als Mutter, auch darum geht es – irgendwie – in den Landschaften, die Juan ihr schildert. Sarah weiß, das ist nichts Besonderes, im Gegenteil – aber bei Juan sieht sie noch nicht genau, wie, was geschieht, was die Verschränkungen sind, die Opfer, die gebracht wurden, die Opfer, die zurückblieben – das Szenario. Sie ist verwirrt, vor allem aber ist sie angezogen von Juan, von seiner geheimnisvollen Geschichte, und von den Landschaften, mit denen auch sie inzwischen begonnen hat, sich Körper vorzustellen – auch ihren eigenen.“