Noel 
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022).
Professor Abgottspohn ist eine Kapazität auf dem Gebiet der Neuropsychiatrie, Schwerpunkt Kommunikationsforschung. Bei einem Gastvortrag am Weihnachtsvorabend lernt er Eliane kennen, eine fortgeschrittene Studentin der Psychologie. Die anschließende Liebesnacht der beiden hat Folgen: Sie werden ein Paar – und bekommen einen Jungen, den sie Noel nennen. Abgottspohn bemüht sich lange Zeit, unbeholfen, mit dem stillen Jungen in Kontakt zu kommen, doch er erreicht ihn erst bei ihren Spielen auf einem Spielteppich, mit unzähligen Autos, Bauten, Straßen, städtischem Treiben. Ein Höhepunkt ist, wenn Abgottspohn dort einen hilflosen Vater spielt, der am Steuer die Orientierung verloren hat und von seinem Sohn „Leon“ durch das städtische Dickicht dirigiert werden muss, denn er vergisst den Weg – und schließlich auch sein Ziel…

Leseproben 
„Sie hatte sich nicht getäuscht, denn an dem Abend noch gingen sie zusammen essen. Er hatte vorsorglich ein Hotelzimmer reserviert, falls es später würde nach seinem Vortrag. Immer wieder verlangsamte er seine Rede, zögerte, suchte bewusst nach Worten, machte schließlich längere Pausen. Beim Dessert fühlte sie sich plötzlich durchflutet von einem Rausch des Vertrauens. Mit ihrer linken Hand berührte sie flüchtig sein Handgelenk und sprach von diesem Vertrauen. Natürlich sagte sie nichts von dem Rausch – nur einfach, dass sie ihm, seiner Arbeit und seiner Person tief vertraue… Er sah sie lange, offen und verletzlich an, das lebhafte Blitzen in seinen Augen schien fast melancholisch verschattet. Ihr war es, als ob ihre Blicke sich ineinander fraßen. Sie hatte den Eindruck, dass seine Iris, die eigentlich graublau war, wie sie bei der Vorspeise festgestellt hatte, plötzlich wie Enzian glühte. Nun schwamm sie auf einem Floß des Vertrauens…“ 
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„Allmählich verstand Abgottspohn: Hier ging es um das wahre Leben, hier spielte er um sein Leben, um sein Leben mit dem Jun­gen. Hier ging es um den Alltag, um große und kleine Katastro­phen, um Begegnungen, Buslinien, um ein kleines Mädchen, das seiner Mutter verloren gegangen war, oder um einen umgestürz­ten Obststand, wo Passanten auf den Bananen ausrutschten… Um einen Baum, der vom Sturm auf die Straße gerissen eine jun­ge Mutter unter sich begrub – in dem einzigen kleinen Fiat 500, den sie unter ihren Modellautos hatten. Um ihr zu Hilfe zu kom­men, mussten sie sich beeilen!... 
Zweifellos verstanden sie sich in diesem Spiel, zweifellos aber waren sie beide noch nicht, als Ueli und Noel, wirklich in Kontakt. Und er war beunruhigt: Wohin würde sich das Spiel eines Tages entwickeln? Was könnte an seine Stelle treten?”