Staub
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022). 
Diane, eine bildende Künstlerin, gerät in eine akute Krise, einen „Nervenzusammenbruch“, als ihr beim Verstreuen der Wind Asche ihrer verstorbenen Freundin in die Augen weht. Sie sucht Linderung bei ihrem neuen Freund, Pascal, einem Bergfex und Computerfreak, der bald mit seinen wenigen Besitztümern bei ihr einzieht. Neben den erotischen Linderungen ihrer Krise beschäftigen sich die beiden mit lebhaften Diskussionen über Malerei, Kreativität – und Begräbnisse. Doch auf einer Extrem-Bergtour in einer verlassenen Region der Karpaten verliert sich Pascals Spur.

Leseproben 
„Du hast es abgerieben und ausgespuckt, das ist gut!, sagte er zu ihr. Asche ist Asche – Staub ist Staub, dachte er nochmal. Und dass sie ein bisschen hysterisch wurde. Und sie steigerte sich noch: Aber es ist von Céline – es ist doch Céline, meine geliebte Céline! Es ist ekelhaft. Ihre DNA vielleicht, Chromosomen und so…
Jetzt wimmerte sie: Wie ein Virus, den ich jetzt in mir habe.
Aber du kannst dich beruhigen – was soll denn Schreckliches passieren: Es ist nur ihre Asche… Staub ist Staub! Versuche doch, es zuzulassen, es ist geschehen…
Sie kannte Pascal ja kaum! Und er sagte nur: Staub ist Staub… lass es zu! Aber er war es, der ihr sofort in den Sinn kam, als sie nach dem Zwischenfall von Panik überfallen wurde: Célines sterbliche Reste unter ihren Lidern, auf ihrer Bindehaut, ihrer Schleimhaut, ihren Lippen. Karbonisierte Céline!“ 
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„Diane fing ja erst an, ihn kennenzulernen. Was sie bisher stenografisch erfahren und sich zusammengedeutet hatte: Er war ein sanfter Hacker, ein Freier Kletterer, ein Bezwinger von Steilwänden und ein Streckenwanderer auf der ganzen Welt. Erforscher der Introversion und transzendentaler Meditationstechniken, ein Schreibender und – vielleicht – ein Wortkünstler konkreter Poesie, obwohl er nur wenig sprach. Natürlich hatte sie auch in seinem Blog gelesen, aber was sie dort zu entdecken glaubte, blieb ihr fremd. Doch sie fand einen Suchenden – mit Interesse für Überschreitungen und Übergänge: vom Wachen ins Träumen, ins Nirwana, für Widergeburten und letzte Dinge. Und er konnte stramm lieben und war bei der Sache. Seine Schwächen: Er kaute die Fingernägel ab und machte manchmal ein Gekämme und Gefummel mit dem Pferdeschwanz – und manchmal regelrechte Pfauenbewegungen. Das sah sie nicht gern… Aber, er war ja noch jung! Mit seinen Fünfundzwanzig fast fünfzehn Jahre jünger als sie.“ 
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„Ich glaube, ich kann das nicht mehr, diese Poyas malen. Es bringt mich in den völligen Stillstand. Andere Ideen und Projekte verrotten. 
Sie sprach mit halbvollem Mund und hatte Joghurtspuren auf der Oberlippe. Er sah ihr fasziniert zu, denn das liebte er an ihr: Dinge so unbefangen, spontan zu tun. Hier und Jetzt. Nachdem endlich das letzte Bilderrätsel gelöst war, das sie ihm auf den Rücken gepinselt und geleckt hatte – war des Bemühens und der Luzidität genug: Diane schien zufrieden, in einem Zustand zwischen Lässigkeit und Erregung. Er spürte es genau.”