Beute
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022). 
Bei ihrer Reise in ein Luxus-Resort auf einer Kanarischen Vulkaninsel sind zwei Menschen auf der Suche nach Beute: Yvonne Escher, eine attraktive Viktimologin, möchte Urlaubsentspannung mit der Beobachtung sich anbahnender Beziehungs“verbrechen“ unter den Feriengästen kombinieren. Dagegen sucht Carlo Morv seine Beute in sexuellen Eroberungen, gleich welchen Geschlechts, solange sie nicht zu alt sind. So bewegen sich die beiden bei ihrer Suche nach Beute aufeinander zu.

Leseproben
„Und wie ich die Farben des Meeres und der Sonnenuntergänge liebe! Die Düfte der starken Brandung und des botanischen Gartens, die kleinen Häuser, in denen man wohnt, wie im ‘Pueblo’… Und wie ich die Beobachtung der kleinen Verbrechen im Urlaub liebe, die Demütigungen und Erniedrigungen, das Betrügen und den Liebesentzug, die Urlaubs-Crashs, wie sie sich vor meinen Augen entwickelten, zum ‘Ausbruch’ kamen, mit offenem Tathergang – ihren Entwicklungslinien! Es war großartig, Dinge ‘kommen zu sehen’, in ihrer Aktualgenese, wie sie in der Psychologie sagen: Echte ‘Prognosen’ zu erleben und nicht nur ‘Retrognosen’, die rückwärtigen, möglichst lückenlosen Erklärungen, mit Indizien und Leerstellen; ‘Wie-es-möglich-war-dass'-Erklärungen, wie sie in der Viktimologie allgegenwärtig sind und uns alle umtreiben – bis zur Erschöpfung… Vielmehr mitzuerleben, wie Hässlichkeit, Grausamkeit, Betrug näher rückten und ‘ausbrachen’. Nicht, dass ich mich am Leid der anderen weiden möchte… Es ist wohl doch eher ein neugieriger und abgekühlter wissenschaftlicher Blick, um fragiles und fragwürdiges Verständnis zu erlangen, vielleicht Gerechtigkeit herzustellen? So glaube ich jedenfalls, so versuche ich mir selbst zu glauben… Und, wer weiß, vielleicht dem vorzubeugen, was jemandem angetan würde. Eines Tages.“ 
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„Dort drüben ist sie ja wieder – verschwindet gleich im Haupt­haus! Und endlich weiß ich, an wen sie mich erinnert: an Audrey Hepburn! Es ist vor allem ihr feines Gesicht, kindschön, doch etwas schmaler als bei der Hepburn! Die dunklen Haare und die dunk­len Augen, mit dem leichten Silberblick (was sie von der Hepburn unterscheidet). Sehr fein und schlank, ähnliche Bewegungen wie die Hepburn… etwas jungenhafter ihre Gestalt. Welch eine Beu­te?! Ich wusste, dass der Roman ‘Frühstück bei Tiffany’ kein Hap­py End für Holly Golightly bereithielt, so wie in dem berühmten Film – das war Hollywood-Fake… Im Original war Holly Golightly verloren, weiter auf der Flucht vor Bindungen, Nähe- und Liebeshinweisen. Ich stelle mir vor, eine erste Begegnung konnte ihr eine Gänsehaut auf Arme und Rücken zaubern, der sie sich für kurze Zeit hingeben konnte, vielleicht verlängert durch ein paar Longdrinks oder eine Flasche Wein. Doch allzu bald verwandelte sich die Gänsehaut in Thrill, eine vorsichtige Erstarrung bei noch freundlichem Gesicht, trotz quälender Fluchtreflexe war ja noch Hoffnung… und Holly war eine Beute! 
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„Wie verrückt war das denn?! Dieses Persönchen, diese zierliche, junge Frau pustet mich mühelos in meine Vergangenheit. Das ist schwierig, schmerzlich – und es scheint, sie geht genau auf einen wunden Punkt, den ich Gian nie preisgeben, nie mit ihm klären konnte…
Wie aufgeregt ich bin… Ich sage:
Sie sehen, wie aufgeregt ich bin! So haben Sie noch leichteres Spiel!, und ich zwinge mich zu einem Lächeln…
Glauben Sie mir, Carlo! Ich werde nicht spielen! Es geht um Ihr Leben, scheint mir, um Ihre Chance…“