Ein gewisses Etwas 
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022). 
Ein zwölfjähriger Junge versucht sich von den Verstrickungen und Konflikten seiner Familie abzugrenzen, von seiner pubertierenden Schwester, seiner nähehungrigen Mutter, seinem zweideutigen, unaufrichtigen Vater. Er investiert alle Neugier und Leidenschaft in sein Ameisenvolk, das er zuhause hegt, füttert und beobachtet, um am Leben seiner Emsen möglichst direkt teilzuhaben. Menschliches Verhalten, Liebe, Erotik, Sexualität sind für ihn unerträglich und er sucht Ablenkung in den klaren Verhaltens- und Beziehungsformen, in der Eusozialität seines Ameisenvolks…

Leseproben 
„All diese Liebes- und Eifersuchtsspiele, die Anklagen, die Sze­nen zwischen Mama und Papa, die er beobachtete und aus denen er sich, so gut es ging, herauszuhalten versuchte. Er hatte sich schon längst in Sicherheit gebracht und blieb abseits von diesem Teilchensturm der Intrigen, dieser Ansammlung lächerlicher In­dividuen mit ihrem erbärmlichen Ego, von dieser Familie, die ei­gentlich auch Eusozialität leben müsste, aber es nicht vermochte, wie so viele andere Menschen. Bei ihnen stob alles auseinan­der, das heißt, abgesehen von dem Geschmuse und Getue zwi­schen Amy und Papa, und den Anbiederungen, mit denen Mama immer wieder versuchte, sich ihm zu nähern. Immer ging es um Vorteile, Privilegien, Aufmerksamkeit des Einzelnen, Nähe, Be­rührungen. Doch er war anders. Er war autonom, er brauchte das nicht. Es war ohne Nutzen für die Evolution, fand er. 
Er widmete sich ganz seinen Ameisen. Er las über sie, alles, was er bekommen konnte, vor allem aber arbeitete er für sie – und lebte mit ihnen. Amy hatte mit elf-zwölf, in seinem Alter, einen Hams­ter. Doch ging ihre Hamsterperiode zu Ende, je mehr ihre Brüste wuchsen, und je mehr sie mit Papa rummachte. Sie war in der Pu­bertät und ihre Sexualität ließ eine Verbindung mit einem so nich­tigen Tier nicht mehr zu, dachte er. Papa war jetzt ihr Hamster. Oder war es umgekehrt? 
Ameisen sind gerecht. Sie richten Diebe und andere, die ihnen zu Leibe rücken wollen. Gemeinsam sind sie stark, fast unüberwind­lich. Sie stellen die Ordnung zwischen den Spezies und innerhalb des Systems wieder her, und sie würden es auch hier tun, hier in der Wohnung.”