Liebe über den Tod
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022). 
Auf dem nächtlichen Heimweg, nach einem erfolglosen Eroberungsversuch, wo er mit seinem Liebesgedicht gescheitert ist, durchquert der zurückgewiesene Liebhaber einen Friedhof. Aus der Ferne entdeckt er dort eine Gestalt, trauernd vor einem Grab, die verschwindet, als er sich nähert. In das frische Grab sind kleine Papierröllchen gesteckt, auf die ungewöhnliche Abschiedsgedichte geschrieben sind. Angerührt von der Intensität der Botschaften, schreibt er ein tröstendes Poem und steckt es in die weiche Erde. Kurz darauf entdeckt er eine neue Botschaft auf dem Grab, die eine Antwort auf sein Gedicht sein könnte. Seine Neugier, seine Fantasie sind geweckt.

Leseproben
„Betrunken, gedemütigt gehe ich in die Nacht: Als geschmerzter Nacktmull (das idiotische Bild, das ich mir vor dem Scheitern bei Ina selbst verpasst habe). Im Regen mache ich einen Umweg über den Friedhof, von einer halben Stunde oder mehr, ich weiß es nicht mehr, Aber es passt! Ich schimpfe und spreche zu den Toten. Habe genug Alkohol, genug Kontrollverlust, um Dummheiten zu machen, spüre den Stachel, loszulegen. Im dünnen Licht lese ich Namen, Jahre und Grabinschriften, ich pöbele die Toten und Tit­ten an, schimpfe mit der Nacht, drohe der Nacht. 
Weiter vorne im Regen kniet jemand vor einem Grab… Als ich etwas mehr erkennen kann, glaube ich, Isis zu sehen… Isis? Den Oberkörper aufgerichtet, die Arme ausgebreitet. Den Kopf entschlossen erhoben, darauf ein Hut, wie ein Schwarzmilan, der Göttervogel, scheint mir, mit ausgebreiteten Flügeln. Die ägypti­sche Göttin wacht vor einem Grab, über das andere Reich…  
Das ist, was mir Regen, Demütigung und Wut zu erkennen er­lauben, als der getretene Hund, der von Ina weggegangen ist – mit meinem verlachten Poem heller wahn – das ich nicht einmal zer­rissen habe, um mich nicht noch mehr zu erniedrigen vor ihr. Vor der Klangkünstlerin!, lache ich bitter und knirsche auf den Stein­chen unbeholfen näher, unter dem Schutz der Regengeräusche, die auf Efeu und Thuja niedergehen, ich dampfe, blind, durch­nässt. Doch bevor ich die ägyptische Göttin erreiche, ist sie ver­schwunden. Nur ihre Spuren sehe ich, wo sie gerade gekniet hat, an einem frischen feuchten kahlen Grab, mit einer provisorischen Schieferplatte, in die Alex gekratzt war. Unbeholfen, vorläufig. In der weichen Erde entdecke ich ein paar dichtgerollte Papierröll­chen, wie Zigaretten, die man in die Erde gedrückt hat. Meine Neugier wird wach. Eines ziehe ich aus dem feuchten Boden…” 
~
„Heute bin ich wieder am Grab vorbeigegangen und habe eine neue kleine Schriftrolle gefunden… 
Atemlos
Geschirr hab’ ich zerdeppert,
denn das haben wir versäumt.
Ich hätte so gern einmal gestritten mit dir, Weißglut,
nur um zu spüren, wie es ist, Geschirr zu zerschlagen,
dir dabei zuzusehen und zu schnauben…
Ich glaube, es wäre hinreißend gewesen:
Ärger und Wut laufen scharf durch uns hindurch –
Dann versöhnen wir uns! Atemlos.
Dieses Mal entscheide ich mich, ihr zu antworten! Mit einem kleinen Poem, einer Resonanz in ihre Einsamkeit aus Schmerz, die ich mir vorstelle. Auf ein Notizbuchblatt schreibe ich…“ 
~
„Gerichte, die sie für ihn machte, waren immer schön, bunt, arran­giert und überraschend. Sie drapierte Glasnudelnester, verrührte kontrastierende Soßen und streute und träufelte Zutaten darauf, Gewürze und Kräuter und Blättchen. Brot schnitt und toastete sie, heller und dunkler, in Streifen und geometrischen Formen: die Brot-Zebras. Alex sollte sich sicher fühlen und doch nie langwei­len… wenigstens, wenn sie aßen, kosteten oder kosten. 
Manchmal hatte sie das Gefühl, sie wären immer noch Kinder, die ihr Leben spielten. Und die Stimme in ihr, die sich bei ihren Gedichten an ihn meldete, war zuerst noch klein, kleinlaut, klein­geschrieben…“