Viola und der Regenbogen
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022). 
Drei Schicksale, drei Geschichten, sind in der Erzählung verschmolzen: Sirinah und Danica sind in Missbrauchserfahrungen gefangen, die sie an die Grenze ihrer Lebensfähigkeit bringen. Dagegen hatte Viola eine vielversprechende Kindheit und führt ein interessantes Leben. Doch sie gerät in Schwierigkeiten, als sie ihrer Mutter, einer versierten Autorin von Seifenopern, zu entkommen versucht, um ihrer neuen Freundin, Némina, nahe zu sein…

Leseproben
„Ich war nichts – unter deinem Blick, sagte er. Nein, Wachs. Wachs war ich, unter deinem verhexten Mädchenblick. Und als du weggegangen bist, in die verhasste kalte Welt über die Alpen, hast du mich wieder verhext: Diesmal hast du einen bösen Zauber ausgesprochen. Wer dir dabei geholfen hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass du mich verflucht hast, als du weggegangen bist. Denn einen Monat später wurde ich krank. Da habe ich das erste Mal Blut gespuckt. Das erste Geschwür. Mutter ist an Deinen Lügen gestorben, ich bin an Deinem bösen Blick verrückt geworden – und werde bald an Deinem bösen Zauber sterben. 
Doch was er sagte, perlte an Danica ab. Sie kannte jeden Satz. Immer, wenn es ihr schlecht ging und sie den Vorhang des Tages kaum heben konnte, fing er damit an. Immer öfter, je kranker er schien, je schwächer sie sich fühlte. Versteinert, hörte sie kaum mehr zu, je kranker sie wurde, je mehr der Boden unter ihren Füßen nachgab, zurückwich. Sie war eine Hexe, an der ihr Vater gescheitert war. Erst wurde er krank an ihrem kleinen Körper, an ihrem Blick, jetzt an seinem Magen, den sie verflucht hatte, weil sie sich an irgendetwas halten wollte, um es zurückzustoßen, um ihn zurückzustoßen. So hatte sie als Kind verzweifelt gegen seinen Bauch geboxt, um sich zu wehren.“ 
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„Mikrowelten in uns! Ohh!, dachte sie, das hat ja meine Tochter geschrieben!, als sie das Buch in einer Buchhandlung überrascht auf einem Regal mit den Bestsellern entdeckt hatte. Nur ein paar Seiten hatte sie angeblättert, lustlos, mehr aus Überraschung, vielleicht ein wenig aus Pflichtgefühl. Ein spröder Titel, aber nicht uninteressant, dachte sie weiter. Jetzt aber wühlte sie es aufgeregt aus dem Stapel unzähliger, aufgeschlagener Illustrierten, Bücher, Dokumente auf ihrem Schreibtisch heraus. 
Ich beginne sofort mit dem Lesen! Ich werde das Buch durchkämmen, mit allen Antennen nach Hinweisen stöbern, um Viola auf die Schliche zu kommen… Mikrowelten in uns! – Es ist unfassbar! Diese junge Frau besitzt alles, alles, wonach so viele Männer heute hungern: Entschlossenheit, Power, Intelligenz; sie sieht sehr gut aus – und streng. An solchen Frauen werden sie schwach und arbeiten sich ab, sehnen sich nach Auflösung ihrer Person, ihrer Persönlichkeit… und Viola? Sie verguckt sich in eine Frau, eine nichtssagende Frau…!?