Der Himmel über der Greina 
Erzählung von Michael Reicherts in dem Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“ (2022). 
Ein Wanderer steigt aus dem geheimnisvollen Val Lumnez in die karge, zauberhafte Hochebene der Greina auf, wo ihn die Schönheit der Landschaft gefangen nimmt. Sein Weg kreuzt sich mit dem einer Wanderin. Die beiden halten inne und beginnen ein Gespräch über den Zauber des Ortes. Doch bald erfährt der Wanderer, dass diese Frau in einem Ritual in die Greina aufgestiegen ist, um dort nach einem ungewöhnlichen, für sie zerstörerischen Verlust dem geliebten Menschen nahezukommen. Er begleitet diese Frau und sieht sich plötzlich selbst mit seiner eigenen, fernen Vergangenheit konfrontiert.

Leseproben 
„Auf der Hochebene, der einstigen Gletscherwanne, zwischen baumlosen, sanften Berghängen, ging er mit kräftigen Schritten den in dieser Jahreszeit meist trocken liegenden Mäandern entlang. Er genoss ihre Kargheit und Anmut, atmete mit der Umgebung: Immer neu verzweigten und vereinten sie sich, bildeten ungeheure, miteinander verschlungene und wieder ausufernde Zeichen, denen man folgen, in denen man sich verlieren konnte. Eine strahlende Kühle, ein zarter, würziger Wind zog über die Hochebene und mischte sich mit seiner Körperwärme, formte das Schweißrelief seiner Bewegungen, zeichnete Umrisse seines Berg-Selbst. Felsbrocken aller Größen, Gesteinstrümmer, verschliffene Flusssteine, kantenrund, Schotter und Kiesel, manchmal fein zermahlen, erstreckten sich über die ganze, langgezogene, graugrün schimmernde Ebene. Hie und da von leuchtend grünen Halmen, von Wollgras und seinen flockigen weißen Blütenköpfen, von Heidekraut oder rostigem, goldbraunem Moos verziert. Hie und da überlagert von dunklem, manchmal schwarzem Sand, den das lebendig fließende Wasser, selbst als Rinnsal, glänzend inszenierte. 
Die Gestalt, die er schon von fern, von links, auf seinen Weg, auf sich zukommen sah, nahm langsam Formen an. Ihre Bewegungen waren zögernd, ja versunken, seltsam abgewandt, und doch geschmeidig, der Kopf gesenkt und dann wieder gegen den Himmel gerichtet, blau, eingefasst von den graublaugrünen Gipfelzügen. 
Sie grüßten, als sie aufeinandertrafen…“ 
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„Seitdem habe ich nur auf sie gewartet, lebendig oder tot, auf ein Zeichen, einen Brief, einen Anruf, auf einen Fund, der das Ungeheuerliche erklärt. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr anderen Menschen zuwenden. Erst monatelang krankgeschrieben, musste ich schließlich meine Arbeit als Krankenschwester ganz aufgeben. Ich war völlig kraftlos, unbrauchbar, aus der Bahn geworfen, wurde zu einer Hülle. Ich geriet in den zähen Strudel einer sich hinziehenden, quälenden Depression, alles verlangsamend, in verstummender Leere.“ 
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„Eine eigentümliche Vertrautheit begann die beiden zu umspinnen, seit sie vor den Steinmännchen stehen geblieben waren. Sie sagten nicht viel, verschworen, als wollten sie dieses menschennahe Gewimmel nicht stören. Jetzt lächelten beide, vorsichtig. Beide spürten, dass sie offen und berührbar waren, sie waren dabei, sich näher zu kommen. Sie berührten sich, flüchtig: Nebeneinanderstehend, deuteten sie gleichzeitig auf verschiedene Steinwesen, die so vergänglich diese karge Welt der Mäander bevölkerten, und ihre Hände kreuzten sich, berührten sich, flüchtig, zufällig…“